Antoin Bruhin

“Am Anfang war das Vorwort“
Hans-Ulrich Obrist im Gespräch mit Anton Bruhin

Anton Bruhin schafft seit den späten 1960er-Jahren an seinem umfangreichen und solitären künstlerischen Werk. Neben seinem bildnerischen Schaffen ist er auch für seine Lyrik und seine Musik bekannt, die von traditioneller Volksmusik bis zur Neuen Musik reicht. In enzyklopädischer Weise hat Bruhin die Schweiz musikalisch vermessen. Er hat zahlreiche Künstlerbücher und Bände mit experimenteller Lyrik verfasst und verlegt, darunter auch eine grosse Zahl an Palindromen. Das Gespräch über sein weitreichendes Œuvre fand Anfang des Jahres 2014 in Bruhins Zürcher Atelier statt.

Hans Ulrich Obrist : Vielleicht wäre es interessant mit den Anfängen zu beginnen. Das erste Mal sah ich deine Arbeiten im Zusammenhang mit Bice Curigers Ausstellung «Saus und Braus». Für mich war das zu früh, ich war erst zwölf Jahre alt, als die Ausstellung stattfand, doch mit fünfzehn las ich den Katalog . Es gab doch sicher früher schon Werke, aus den 70er-Jahren und so. Wie hat das alles angefangen? Wie bist du zur Kunst gekommen oder wie kam die Kunst zu dir? Hat es da eine Art von plötzlichem Erwachen gegeben oder eine Epiphanie – ein spezifisches Erlebnis?
Anton Bruhin:
Früh durfte ich in Vaters Büro spielen, auch mit der Schreibmaschine, mich interessierten die Buchstaben, zunächst ihre Gestalten oder Wesen, mit diesen Zipfeln dran oder Bäuchen und was Buchstaben alles so an sich haben. Und da war das Zeichnen und Schreiben und vielleicht ein Liedchen singen, wie man das so macht als Kind. Es könnte sein, dass ich das etwas intensiver betrieb, als der Durchschnitt der Leute, aber es gibt keinen äusseren Grund – etwa dass ich mit Kunst aufgewachsen wäre – das Höchste an Kunst war eine Bibel mit Abbildungen von Rembrandt, Tizian und anderen drin. So war es in etwa.

HUO  Was haben deine Eltern gemacht?
AB  Vater Müller und Mutter Hausfrau. Sie hat gerne alles schön geschmückt, Wandschoner aus Jute und Filz, schöne Bildchen gemacht, ein wunderbares Etui für die Federballschläger mit Reissverschluss und Filzfederball drauf usw. Das war die Freude am Gestalten. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in der March im Kanton Schwyz, nicht gerade eine musische Ecke. Die Eltern aber sammelten meine Kinderzeichnungen und datierten sie rückseitig, dies war für mich eine Bestätigung und ich danke es meinen verstorbenen Eltern heute noch, dass sie diese Aufmerksamkeit für meine kleinen Produkte aufgebracht haben, das war förderlich. Vater spielte erste Geige im Orchesterverein Tuggen, soweit das musische Umfeld, sonst hingegen Wüste: Kunst war und ist höchst verdächtig.

HUO  Hat es irgendwie Begegnungen gegeben mit Werken oder irgendwelchen Heroes?
AB
Meine Eltern bauten 1954 ein Einfamilienhaus. Wir zogen ein, Einrichtungsgegenstände wie Teppiche usw. folgten nach und nach. Dazu gehörten auch ein paar Ölbilder. Eines Tages kam ein Künstler im Döschwo (Citroën 2CV) mit Schnurrbart, Beret und Gauloises. Er brachte ein paar Bilder mit, Landschaften, etwas besser als Edelkitsch, Riedlandschaften, Boote im Hafen usw. Er hielt sie hier und dort an die Wände. Als Fünfjähriger berührte ich mit der Fingerspitze die Leinwand, ob denn die Farbe wohl schon trocken sei. Das wäre dann dieser Michelangelo-Moment gewesen, der richtungsweisende göttliche Funke: Das will ich auch, Döschwo, Schnauz, Beret, Gauloises und so.

HUO  Du hast relativ früh die Kunstgewerbeschule in Zürich (KGSZ) besucht? Hast du da auch David Weiss kennengelernt?
AB
An der Kunstgewerbeschule bin ich David noch nicht begegnet, dies geschah erst etwas später. Ich war in der gleichen Klasse wie Walter Pfeiffer und Christian Rothacher, ein Aargauer Künstler, der verstorben ist. Er machte schöne Sachen, zum Beispiel malte er einen Nachtzug auf eine Neonröhre. Das war erst im zweiten Jahr der neu gegründeten Klasse «Form und Farbe ».

HUO  Gehörte der zur Szene um Hugo Suter? Da gab es ja auf einmal eine Bewegung im Aargau in den 60ern.
AB
Aargauer gab es einige: Hugo Suter, Max Matter und Heiner Kielholz, der Stillste von allen und der wohl Tiefgründigste.

HUO  Die Kunstgewerbeschule, das war oft zu lesen, scheint damals ein sehr interessantes Umfeld gewesen zu sein – etwas lag in der Luft. Wir stossen immer wieder darauf, dass in den 60er-Jahren an der Kunstgewerbeschule Zürich irgendwas in der Luft war, dass etwas zusammenkam. Wie war das für dich, kann man das beschreiben?
AB
Es war die Ära von Pop, Beat – eine Zeit des Übergangs. Man wartete auf das Erscheinen des neusten Albums der Beatles oder Stones, rannte los und kaufte sich die Platte. So war das zumindest im Westen. An der Kunstgewerbeschule erlebte ich ein Jahr lang den Vorkurs, der war noch etwas bieder und altbacken. In den Gängen sah ich interessant aussehende Schüler, die waren alle aus der Klasse «Form und Farbe». Also besuchte ich im folgenden Jahr diese Klasse. Da waren Serge Stauffer und Hansjörg Mattmüller, die beiden Lehrer; ich spürte, dass ich in diesem Jahr mehr gelernt hatte als in der ganzen Schulzeit zuvor. Es war eine Aufbruchzeit und auch noch Hochkonjunktur. Lange ging alles stetig aufwärts, man musste sich keine Sorgen irgendwelcher Art machen, notfalls konnte man immer noch einen Job mit anständigem Salär finden. Dies änderte sich bald. Im Westen war Pop-Art angesagt, die letzte dominierende Kunstrichtrichtung. Dann begann es sich aufzuteilen in Op-Art, Land-Art, Konzeptkunst und was alles noch kam. Diese eklektizistische Ära hält bis heute an. Natürlich hat jede junge Generation das Gefühl, sie habe etwas Neues erfunden, aber damals liefen tatsächlich ein paar Sachen, die es vorher nicht gab. Flower-Power, Drogen, «turn on, tune in, drop out» – solche Übungen liefen. Man traf sich an der Zürcher «Riviera», um sich die Haare wachsen zu lassen.

HUO  Du hast relativ früh in deiner Studienzeit mit deinen Künstlerbüchern angefangen, wie kamst du dazu? Das erste Büchlein ist, glaube ich, durch die Begegnung mit Serge Stauffer entstanden. Wie würdest du den Einfluss von Stauffer beschreiben? Er war ja auch ein Duchamp-Experte, hat sich mit Poesie auseinandergesetzt, hat verschiedenste Kunstformen zusammengebracht, er wurde mir oft fast als eine Art Renaissance-Figur geschildert …
AB
… von der Universalität, vom Gesamtheitlichen her bestimmt. Damals, 1965, war ich recht jung. Mich haben einfach geile Produkte interessiert, schöne Bilder und aufregende Kunst. Dieses Ganzheitliche von Serge Stauffer habe ich damals nicht verstanden, darüber stellte ich mir keine Fragen, nein, das war eben der Serge. Er vermittelte einem beim Gespräch immer das Gefühl, auf Augenhöhe zu sein, das fand ich menschlich grossartig. Er wurde nicht unwirsch, wenn man mit schrägen pubertären Problemen kam, wie ich es von andern Erziehern gewohnt war. Rudolf Frauenfelder, bei dem ich ein Jahr zuvor den Vorkurs besuchte, sprach uns Schüler ebenfalls auf Augenhöhe an und löste wie Stauffer einen perpetuellen Lernprozess aus. Letzterer verstand es, uns aus dem üppigen Füllhorn der Enzyklopädie sowohl Ausnahmepositionen als auch grundlegende Aufklärung näherzubringen, und dies weitgehend ausserhalb des gängigen Kanons, radikal dünkelfrei. Serge eröffnete uns entlegene Fundstellen und liess uns die Exotik der Banalität vor der Haustüre erkennen.

HUO  Wie ist es zu den ersten Werken gekommen? Es ist ja interessant, wenn beim Künstler die Studentenzeit vorbei ist und irgendwie das Werk einsetzt: Es ist dann immer die Frage, was ist die Nummer eins im Catalogue Raisonné. Wo war deine Studentenzeit zu Ende und was ist deine Nummer eins, wenn jemand irgendwann ein Gesamtverzeichnis macht?
AB
Der Übergang vom spielenden Kind zum immer noch spielenden Pubertierenden und so weiter war gleitend und nahtlos. Die bewusste Stufe, «Ich will auch Maler werden», kam mit der erwähnten Berührung des Gemäldes mit der Fingerspitze. Das kindliche Motiv war wohl, es jenem Maler wie ein Affe dem anderen gleichzutun. Das Spielzeug des anderen möchte man auch haben.

HUO  Eine Nachahmung also?
AB
Ich würde eher sagen: ein Wunsch. Ein «Ich auch»-Wunsch, nicht etwas nachzuahmen, sondern «auch zu sein». Wann und wo genau der Moment war, da ich mir sagte, «Jetzt ist Ernstfall und bisher waren es Schülerarbeiten»? An einen solchen Punkt erinnere ich mich nicht. Das Gefühl, dass ich ernsthaft etwas mache – Kunst produziere – war sehr früh da, spätestens in der Kunstgewerbeschule.

HUO Für dich gibt es also kein Werk, dass du als Nummer eins im Gesamtverzeichnis definieren könntest?
AB
Ich habe die Kinderzeichnungen und Schülerarbeiten noch. Erstere müsste ich suchen, aber die Schülerarbeiten liegen vor. Ich glaube nicht, dass tolle Sachen dabei sind. Aber mir liegt jetzt daran, im Zusammenhang mit der F+F, Serge Stauffer und dem erwähnten Primat der Pop-Art, zu sagen, dass wir auch Duchamp gelehrt bekamen. Ich wollte malen und war irritiert, dass man jetzt nicht mehr malen dürfen sollte. Aus den Sommerferien kam ich mit zwei, drei kleinen Plein-Air-Landschaften zurück, die Reaktion meiner Mitschüler konnte ich vorhersehen: «Och, jetzt kommt der wieder mit seinem Zeugs…». Nicht, dass ich mich nicht auch für Pop interessiert hätte. Vor allem durfte man nicht pinseln – spritzen oder lackieren war allenfalls erlaubt –, das erkennbar Handwerkliche war aber verpönt. Es galt eine «industrielle» Oberfläche anzustreben. Was nach Terpentin roch, wurde verspottet. Dies beschäftigte mich damals philosophisch intensiv. Bald merkte ich, dass jede Generation meint, sie hätte «es» erfunden, dabei gab es Hochkulturen mitten in Afrika, die schufen vor Jahrhunderten schon Bronzeköpfe, die beinahe fotorealistisch sind, ich weiss nicht, wie die Kultur heisst, es war eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich, «Die Kunst von Schwarz-Afrika» (1970/71), extrem modern …

Nach Malewitschs schwarzem Quadrat und Duchamps Flaschentrockner war schon ein point of no return erreicht. Danach teilt sich die Welt in die Zeit vorher und nachher auf. Aber dazu ist zu sagen, wenn jetzt 1965 jemand noch Pop-Art malte, war das ja auch Malerei. Dieser Widerspruch schien meinen Zeitgenossen nicht aufzufallen.

HUO  Eine frühe Serie, die mir vertraut ist, sind deine kalligrafischen All-Over-Zeichnungen von 1977, die in der Galerie Kornfeld gezeigt worden sind. Dies war eine Erfindung und der Moment, wo du eine Sprache gefunden hast.
AB
Ja, das war so eine Findung. In diesen kalligrafischen oder All-Over-Blättern hielt ich mich an Michaux, an die schönen Papiere im Format von etwa 50 x 70 Zentimeter.

HUO  War Michaux der Auslöser für diese Blätter?
AB
Das war eher im übertragenen Sinne gemeint, dort handelt es sich mehr um Text, mir geht es mehr um Texturen. Die Wesenhaftigkeit der Schrift, der Buchstaben erlebte ich als Kind – später begann ich eine Schriftsetzerlehre, setzte mich also lange mit der Typografie auseinander. Die Kalligrafien kommen vom Zeichen und vom Zeichnen her. Zwar malte ich in der Schulzeit einige wenige Bilder und legte sie dann zur Seite, aber Maler wurde ich erst in den 80er-Jahren. Eigentlich hatte ich mir die Malerei für das Alter aufheben wollen.

HUO  (lacht)  … auf einmal malten alle?
AB
Als die Neuen Wilden kamen, war ich für einmal nicht antizyklisch; «Jetzt lass ich mich nicht von den andern stören, sondern mach jetzt auch.» Normalerweise stehe ich gern etwas quer. Aber ich mache nicht alles nur in Bezug auf die Umwelt und andere, sondern es gibt einen autonomen Bedarf und Antrieb.

HUO Kommen wir doch nochmals auf den Bezug zum Schreiben, zur Typografie, zur Schreibmaschine, und dann auf Michaux, die écriture automatique und deine Kalligrafien zu sprechen. Vorhin habe ich den ersten Entwurf gesehen und du sagtest mir doch, dass er schon in der Studentenzeit entstanden ist. Wie ist es zu diesen Büchern gekommen?
AB
Zu den April Verlag-Sachen? Dies kam auch aus demselben heraus, ich weiss nicht, ob ich schon mal als Bub ein Fanzine… das waren ja noch analoge Geschichten damals… Heftli machen hat mich eigentlich schon immer interessiert. Äussere Anregung zu diesen Büchlein? Ich wollte Editeur spielen.

HUO Könntest du etwas zum Inhalt deines ersten Buches sagen?
AB
Das erste Buch war Gott lebt. Es waren Anekdoten, ich verbrachte einen Winter im Tessin bei Giovanni Blumer, einem homme de lettre… Mit Blumer begann ich das Spiel, «Gott sass vor einem Restaurant und trank einen Pernod …» oder «Gott sah im Kino den Film Die Bibel und sagte: ‹Das Buch war besser›.» Ob das meine Abrechnung mit dem Glauben war? (Er lacht.) Ich weiss es nicht. Streng genommen ist allerdings Rosengarten und Regenbogen das allererste Buch. Mit Spiegeln im Einband und einem marmorierten Umschlag, der an das klassische Design des Insel-Verlags angelehnt war. Es wurde ohne Manuskript direkt aus dem Setzkasten gesetzt; nicht zuerst gedacht, verfasst, dann gesetzt und gedruckt, sondern beim Setzen selbst erdacht: einem Buchstaben folgt der nächste, Wörter, Zeilen stapeln sich zur Seite usw. Rosengarten und Regenbogen war inhaltlich absolut hohl, finde ich, die Texte sind schon recht, aber eigentlich gar nichts. Es ging mir mehr darum, ein Buch zu machen, der Text selbst war eher Füllmaterial. Bei Dieter Roth, in Selten gehörte Musik, geht es darum, dass die Zeit endet, bis die Platte voll ist. «Zeit muss weg, weg weg weg weg …» – Füllmaterial eben, der Inhalt ist nichts und es gibt ihn eigentlich gar nicht. Und da fühle ich mich eigentlich ertappt, also wenn du mich auf den Inhalt ansprichst, hat es kaum welchen.

HUO  Die Idee, dass quasi Literatur entsteht, dass Bücher entstehen, dass Kunst entsteht, Zeichnungen und Malerei, dass dies immer so parallel läuft: War dies schon zu Beginn so oder kam das nach und nach? Mir fällt auf, wenn jemand über dich redet, wenn ich bei irgendwelchen Leuten im Umfeld der experimentellen Musik deinen Namen erwähne, sagen sie, «ein Guru für die Musik»; wenn ich Kenneth Goldsmith von dir erzähle, sagt er, «ein Guru für die Poesie»; und wenn man mit Künstlern spricht, heisst es, «ein Guru für Kunst». Es ist ja sehr selten, dass jemand in all diesen Feldern einen Beitrag leistet. War dies von Anfang an da?
AB
Ja, absolut, das war immer schon da. Zeichnen und Malen, Musik machen und Texte schreiben. Ich vermische die Disziplinen nicht, da bin ich konventionell, was die Kategorien betrifft. Das Ganze liegt in meinem Naturell. Damals litt ich etwas darunter, es hiess, ich mache ein bisschen was in allen Disziplinen, aber nichts Schlaues. Ich konnte mich nicht ändern, ich blieb einfach so. Irgendwann verinnerlichte ich fast auch noch das Gefühl, ich hätte es noch nicht herausgefunden, aber ich konnte mich nicht ändern, um einer sozialen Erwartungshaltung zu genügen. 1975 sah die NZZ in mir einen «Proteus-Typus», der auf jeweilige Gegebenheiten zurechtzustutzen sei. Woody Allen zeigte in Zelig eine anschauliche Version solch eines bedauerlichen Chamäleons. Für mich habe ich ein schlichtes Gleichnis: Landwirtschaftlich gesprochen betreibe ich keine Monokultur, sondern produziere Holz, Schwein und Gemüse usw.

HUO  In den 80er-Jahren kommt die Malerei auf, weltweit wird auf einmal viel gemalt. Du sagst, du warst da zum ersten Mal nicht antizyklisch. Wie kann man deine Malerei beschreiben? Es ist nicht Fotomalerei, es ist auch nicht Pop, es ist eine ganz spezifische Form von Realismus.
AB
Ich befasse mich nicht mit Stilfragen. Es ist gegenständliche Malerei auf Sicht, ich brauche die unmittelbare Ansicht zum Malen, ich male nicht nach Fotos oder vorgängigen Skizzen.

HUO  Also nie mit Zeichnungsvorbereitung oder nach Fotografien?
AB
Nur insofern, als die Komposition organisiert ist, sonst plein-air, immer nach Sicht, also Porträts und so. Ich betrachte die Realität den Anblickals Partitur, ich definiere die Komposition allenfalls durch den Ausschnitt, im Übrigen bin ich ein Interpret wie ein Musiker, ich halte mich an den Notentext, wie es sich gehört. Das ist der handwerkliche Aspekt, eigentlich die Hauptsache. Dabei befasse ich mich nicht mit Kunstfragen, sondern bringe das Heu unter Dach. Ob daraus Kunst wird oder nicht? Ob der Geist weht oder nicht? – Das tut er sowieso, wann er will. Man kann ja nicht sagen: Heute bin ich etwas mehr oder weniger geistvoll als gestern. Ich kann nicht sagen, was ein Werk kunstgeschichtlich bedeutet, ikonografisch hingegen schon. Das Selbstporträt hat eine kunstgeschichtliche Position, die es einnimmt, aber sonst gebe ich der Intuition allen Raum. Ich behaupte keine Position. Was ist es? In den ungarischen Landschaften ist es ein Wärme- und Wonnespeicher, der von den Bildern zurückstrahlt. In der Klinik Hirslanden hat es Panoramen vom unglaublich heissen Sommer 2003, in diesen Bildern spürt man die starke Wärme und die Ruhe und die Freude an der Situation. Das kommt rüber, aber was ist es? Pursuit of happiness – das Produzieren von nachvollziehbaren, am Kunstwerk erlebbaren Glücksgefühlen. Dies ist mir das Wichtigste. Dazu kommt, dass mein Wesen sich nicht unbedingt in den Abgründen der Menschheit suhlt, ich bin nicht da, um Probleme zu wälzen, sondern um Lösungen zu liefern. Wenn mich Leute beim Kennenlernen fragen, «Wie malen sie?», sage ich: «schön». Früher durfte man dies nicht sagen.

HUO  Machst du diese Landschaften, die Berglandschaften, die ungarischen Landschaften und auch die Stadtansichten – tatsächlich alle pleinairistisch?
AB
Ja. Es ist das Unmittelbare, das ich erlebe, was sich im Werk wiederfinden kann: die Frische, der Windstoss durchs Laub, die Temperatur im Licht, Stimmung, die Ruhe oder die Unruhe, das Lauern oder das Angekommen-Sein. Wenn denn der Weg das Ziel ist, dann bin ich angekommen, schon zu Beginn.

HUO  Ein guter Satz …
AB
Eben, ich machte von Anfang an Ernst und habe mich nicht erst für später dereinst aufgebaut – auf die Gefahr hin, dass es ein paar taube Nüsse dabei haben könnte.

HUO  Und dann gibt es deine ganzen Experimente mit der Maultrommel …
AB
Die Maultrommel ist wieder eine Geschichte für sich. 1967 oder 68 hörte und sah ich sie zum ersten Mal an der Zürcher «Riviera», da war es um mich geschehen. Das hängt natürlich mit der psychedelischen Musik zusammen. Ungefähr 1965 kam der erste kommerzielle Synthesizer von Robert Moog, der Mini-Moog, auf den Markt, was natürlich Einfluss auf die Musik hatte. – Nun ist die Maultrommel aber auch ein Synthesizer. [Zischt ein stimmloses Glissando hinauf, bis die Zunge die Zähne berührt.] Später erkannte ich das gemeinsame Prinzip von Maultrommel und Synthesizer: Man filtert vom Grundton etwas [Obertöne] weg, man nimmt nur weg und gibt nichts hinein, damit es gleich funktioniert. Dieses Instrument war ein Blitz aus blauem Himmel und hat eingeschlagen.

HUO  Du hast ja auch eine ganze Sammlung von Maultrommeln.
AB
Es sind über tausend … Hier sind alles Maultrommeln, hier internationale, all die Provenienzen …

HUO  … sortiert nach geografischer Herkunft?
AB
Ja, hier sind die internationalen und hier die Gebrauchsmaultrommeln, meine Konzertinstrumente von Zoltán Szilágyi, meinem Stradivari aus Ungarn. Wenn du von jedem Modell einen chromatischen Satz über zweieinhalb Oktaven hast, dann ergeben sich schnell ein paar hundert.

HUO  Wie entstehen denn Partituren? In deinem Album deux pipes (2010) sind ja nicht nur Zeichnungen,drin, sondern auch deine Partituren mit Umlaut, Diphthong, Vokal, auch fast wie Gedichte.
AB
Die Antwort setzt Grundkenntnisse der akustischen Eigenschaften der Maultrommel voraus: Die Feder der Maultrommel erzeugt einen einzigen Grundton. Dessen Obertöne lassen sich durch verschiedene Positionen der Mundhöhle herausfiltern und somit die anderen Teiltöne unterdrücken. Eine offene grosse Mundhöhle gibt tiefe Obertöne wieder, die Aussprache des Vokals «o» ist nur in dieser Position möglich. Eine kleine, zugespitzte Mundhöhle wie bei der Aussprache des Vokals «i» gibt die höchsten Obertöne wieder. Alle Obertonklänge und -melodien werden ausschliesslich durch die Sprechwerkzeuge gebildet, unter Ausschluss der Stimmbänder.

Für Obertonmelodien genügt die gängige Notation, für phonetische und klangliche Töne und Laute kenne ich kein schriftliches System. Bei «Maultrommel und Sprache» auf deux pipes basieren die Klänge ausschliesslich auf Vokalen, Umlauten, Diphthongen, in einem solchen Fall kann die Niederschrift der Partitur im alphabethischen Schriftsystem erfolgen. Diese Anordnungen von Buchstaben erfahren geradezu von selbst eine poetische Aufladung.

HUO  Die Erfahrung von der Musik mit der Maultrommel führt uns zu den Gedichten. Wie kamst du zum Schreiben?
AB
In der Sekundarschule hörte ich das erste Palindrom, «Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie», es wird Schopenhauer zugeschrieben. Ich war davon extrem fasziniert und begann Buchstaben zu klauben, «SAU AUS USA» usw. Kaum war ich an der Kunstgewerbeschule, wurde uns die Arbeit von Ernst Jandl vorgestellt, Anastasia Bitzos machte darüber einen Vortrag. Das war beeindruckend. Jandl ist unsterblich. Auch der Emmett Williams.

HUO  Ich verbrachte in den 90er-Jahren in Berlin einmal längere Zeit mit Emmett Williams und er erzählte mir von dieser Performance in Zürich 1996, da taucht ja auch die Maultrommel auf …
AB
Ja, bei Marlene Frei. Anekdotisch hat sich die Zusammenarbeit mit Marlene Frei ergeben. Emmett hatte eine Performance im Saal des Kunstgewerbemuseums, Out of Africa. Dabei setzte er sich an den Tisch, zog etwas flaches Schwarzes aus der Tasche und begann es langsam aufzublasen. Bald war zu erkennen, dass es ein aufblasbarer Plastikgorilla war. Dieser füllte sich nach und nach mit Emmetts Odem und richtete sich allmählich auf, bis er prall auf dem Tisch sass, auf Augenhöhe mit Emmett. Nach einem Moment des Innehaltens, liess Emmett langsam die Luft aus dem Gorilla entweichen, allmählich knickte der Menschenaffe ein und es dauerte lange, bis die Plastikhülle wieder flach war und akkurat gefaltet wieder in die Tasche gelegt wurde. Emmett lud mich ein, an einem bestimmten Zeitpunkt seiner Performance auf der Bühne zu erscheinen und zwei oder drei Maultrommelstücke zu spielen, jedoch ohne Bezug zu seiner Aufführung, simultan, um dann wieder abzutreten. Das mit dem Affen hat mir so grossen Eindruck gemacht, dass ich am nächsten Tag den Affenschädel machte mit dem Titel Schematoid. Am Tag darauf baute ich mit Holzstäben einen Schädel, halb Affe, halb Urmensch, ich dachte an Lucy und widmete das Objekt Emmett Williams.

HUO  Objekte sind relativ wenige entstanden …
AB
Die Bildhauerei ist eine Baustelle für sich. Hier will ich nicht Peter Storrer zu nahe treten, den ich für den Grössten lebenden Bildhauer in Zürich halte. In der Malerei ist es Muz Zeier, der alle anderen überragt.

HUO  Aber Gedichte kommen immer wieder. Der «rotomotor» (1978) fasziniert mich sehr! Ich habe ihn immer wieder gehört, da gibt es eine hochdeutsche Fassung und eine schweizerdeutsche Fassung ist im Internet. «Rotomor» ist eine Liste, die mich ein bisschen an die Autorengruppe Oulipo erinnert …
AB
Eine Aufzählung, ja. Es ist ein Wörterbuch, die Wörter sind nicht alphabetisch geordnet, sondern nach deren Nachbarschaft im Laut sowie ihrer Buchstabenfolge. Jedes Wort unterscheidet sich vom nächsten durch nur einen einzigen Buchstaben, der hinzugefügt, entfernt oder durch einen anderen ersetzt wird. Solche Wortreihen waren übrigens in England zu Beginn der industriellen Epoche ein beliebtes Gesellschaftsspiel.

HUO  Ein anderer Aspekt zeigt sich bei den Spiegelgedichten, diese Palindrome gefallen mir sehr. Da gibt es dieses Buch mit Spiegeldichten aus zehn Jahren von dir, besteht da ein Bezug zu Thomkins?
AB
Eben erwähnte ich das erste Palindrom aus der Sekundarschule. Thomkins lernte ich erst an der Kunstgewerbeschule kennen. Ich probierte all die Jahre und kam nicht über «Gras-Sarg» oder «Marktkram» hinaus, kein Spruch, nichts. Erst 1991, nach Thomkins’ Tod, gelang mir das erste Palindrom. Ich schrieb von Hand auf A4-Papier, erst 2000 begann ich mit dem Computer zu schreiben (Windows 95). Zunächst tippte ich die bestehenden Manuskripte ein, dies wiederum löste eine Lawine von Palindromen aus. Ich dachte lange, ich hätte das Palindrom «Planetoid Idiotenalp» erfunden, doch Thomkins war mir zuvorgekommen. Ein Berliner stiess auf «Retsinakanister», ohne Kenntnis dessen, fand ich das Wort auch. Hinterher ist es blöd, wer war zuerst? – Ich sage, der Schawinski hat sowieso alles erfunden.

HUO  Gibt es irgendwelche Projekte, die zu gross oder zu klein waren, um realisiert zu werden? Selbstzensurierte Projekte, vergessene Projekte, zu teure Projekte, verlorene Wettbewerbe? Die ganze Kategorie des Unrealisierten interessiert mich sehr!
AB
Ich soll ungelegte Eier besingen? Ich werde erst gackern, wenn es soweit ist. Jedenfalls hatte ich genug Input, dass man mich jetzt lebenslang mit Computer und Bleistift in einen Käfig sperren könnte und ich mich bestimmt nie langweilen würde.

HUO  Wie hat denn der Computer deine Arbeit verändert? Er scheint eine Rolle zu spielen in den letzten paar Jahren, wie begann das?
AB
Copy-and-paste, Drag-and-drop und solche Funktionen; man zeichnet eine Pixelfiguration nur einmal und kann sie dann multiplizieren und spiegeln.

HUO  Aber das ist jetzt die nächste Stufe, die Pixel waren vorher, wie begann das mit den Pixeln?
AB
Das war vor dem Computer. Mich interessierten Musikdosen und Karussellorgeln, die mit Lochkarten-Leporellos bespielt werden. Die digitale Steuerung wurde lange vor den elektronischen Rechnern verwendet. Entweder «ein» oder «aus» – pneumatisch oder mechanisch, später auch optisch. Die automatisierten Webstühle gab es ja auch schon lange zuvor. Die ersten Computer brauchten sogar noch Lochkarten für grafische Umsetzungen.

HUO  Ist eigentlich das Digitale und das Prädigitale für dich wichtig?
AB
Der «Chrüzlistich», die Stickerei mit Kreuzstichen, ist mindestens so wichtig wie die digitalen Bildpunkte. Es geht mir um die Reduktion der Information. Wie wenig Pixel sind für eine lesbare Figur notwendig? Solches gibt es schon seit Jahrtausenden, archaische Textilmuster (Mittelamerika, Afrika, slawische Völker), Keramik, Mosaike …

HUO  Teilweise handelt es sich bei deinen Pixelbildern um allgemeine Motive, zum Teil sind es aber auch Städte.
AB
In dieser Siebdruckreihe, Hice for Weiss (2012), waren Häuser das Thema. Ich sollte ein Logo für die Firma Projekt Interim machen. Das Pixelgebäude war schnell geliefert, es folgten innert einem halben Jahr über 1000 weitere Zeichnungsdateien.

HUO  Wie kommt es zur Attribution zu den Ortschaften, Rom, St. Gallen usw.?
AB
Es gibt Wie in Rom, Wie in St.Gallen, Wie am Walensee, Wie im Wallis, Wie in Belgien usw. Dies ist eine lose Binnengruppe  Wie in… . Sie entspricht den «Idealen Landschaften». Zu Goethes Zeiten praktizierte man auch Copy-and-paste: ein Stückchen aus Griechenland, dort eine römische Ruine, ein Schäferstündchen inklusive Herde – aus realen oder erfundenen Motiven zusammengestellt. Es wurden Wandpaneele gemalt, zum Teil Raumtapeten, die im Saal über alle vier Wände die Illusion einer 360°-Panoramalandschaft ergaben. Dann folgten aufwändig handgedruckte Landschaftsvariationen auf Tapetenstreifen in Raumhöhe, mit seitlichen Rapporten, sie liessen sich also individuell beliebig kombinieren. Ein bürgerlicher Ersatz für die Tapisserie, die dem prärevolutionären Adel vorbehalten war.

HUO: Das gefällt mir, Landschaft als Copy-and-paste?
AB
Im Westen nichts Neues. Das Quadrat ist schon recht. Es sind doch alle schon mal dort gewesen. Dass es knistert und Magie entsteht, kommt nicht vom Zeitgeist, ausschliesslich ein künstlerisch relevanter Approach öffnet den Weg zum Ziel.

HUO  Ich sehe hier eine Ländlermusikanten-Zeichnung an der Wand. Wir sind uns ja in den frühen 90ern zum ersten Mal begegnet, als wir mit Kasper König dieses Buch über den öffentlichen Blick machten. David Weiss und Peter Fischli schlugen mir vor, deine Ländlermusikanten zu inkludieren, es gab mehrere Seiten mit den Ländlermusikanten. Von Fischli/Weiss erfuhr ich erstmals auch, dass du nicht nur in der Kunstwelt, der Poesie- und Literaturwelt und in der Musikwelt eine Legende bist, sondern auch in der Ländlerwelt. Wie begann das mit der Volksmusik?
AB
Mein Vater spielte Geige im Kirchenorchester Tuggen und Volksmusik ohne feste Formation, jeweils ad hoc an Hochzeiten und Tanzanlässen. Ich absolvierte etwa 18 Monate Geigenunterricht und konnte gelegentlich mitspielen. Später wurde zwar Jimi Hendrix wichtiger, doch warf ich die Ländlermusik nie über Bord. Ich praktizierte sie nicht mehr, doch bei einem schönen Ländler drückte ich auf dem Radiokassettengerät die Aufnahmetaste. Später erhielt ich den Rat, mit meinem alten Vater noch etwas zu unternehmen. So nahmen wir Mitte der 80er-Jahre das Geigenspiel im Duo wieder auf. Mit reaktiviertem Interesse besuchte ich möglichst viele Lokale mit Ländlerkonzerten in Zürich und Umgebung, im inneren und äusseren Kanton Schwyz, mit Abstechern ins Appenzell, ins Baselbiet und das Berner Oberland. Ich wollte die Literatur kennenlernen, um mein Repertoire zu erweitern. Dies machte ich ein paar Jahre lang. Die Musik in den Kneipen und Sälen dauerte meist vom frühen Abend bis Mitternacht, nicht selten auch bis zwei Uhr oder länger. Was mache ich da die ganze Zeit mit meinen Händen? Es bot sich an, die Musikanten zu porträtieren. Sie hocken den ganzen Abend vorne auf der Bühne, relativ ruhig – das Angenehme liess sich mit dem Nützlichen verbinden. Ich zeichnete mit Bleistift H2 in Bücher A5, auf Recycling-Papier mit getrübtem Chamois-Ton, meistens höhte ich die Zeichnungen mit weisser Fettkreide. Dann wollten immer mehr Musiker und Gäste das Büchlein anschauen. Es war wie mit einem Hündchen, durch das man sofort Gesprächspartner findet. Damit fand ich in der Szene Akzeptanz.

HUO  Du hast ja auch aktiv mitgespielt – Wie kam es dazu?
AB
Irgendwann schaltete ich plötzlich oben im Kopf auf Ländlermodus. Der erste Input war eine Musikkassette im Aktionsgestell vor der Migros-Kassa am Limmatplatz. Sie hatte auch Geige und Maultrommel drauf, seit dem Zweiten Weltkrieg eine seltene Ausnahme im Schweizer Kulturraum. Es war ein Volltreffer, die ältere, tief authentische Ländlermusik, die nur noch selten in wenigen entlegenen Tälern zu hören war, ein nachgeworfener Restposten an der Kassa! Ich machte diese Porträts, auch für ein Plakat für das Trio Götterspass (Patrick Frey, Beat Schlatter und Enzo Esposito). Sie wollten ein Plakat im Stil dieser Ländlermusikanten. Also zeichnete ich sie im selben Buch, behandelte sie aber etwas anders, mehr Richtung Karikatur statt Porträt. Es gab ein schönes Plakat.

HUO  Wir sind beim Porträt, hier in deinem Atelier sind wir von Porträts umgeben. In der Ausstellung in der Hacienda habe ich ein Selbstporträt von 1982 mit deinem Handabdruck gesehen. In deinem Lager sah ich ebenfalls viele Selbstporträts. Es scheint mir, dass dem Porträt von Anfang an eine wichtige Rolle zukam.
AB
Als ich Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre zu malen begann, wagte ich es, sofort mit Porträts anzufangen, der schwierigsten Disziplin. Es braucht Nerven dazu. Die Selbstporträts von 1981–83 waren ein guter Anfang, stand ich doch als Modell jederzeit zur Verfügung. Bei den Selbstporträts stand die fotografische Ähnlichkeit im Hintergrund, ich diente als Vorwand, um eine Leinwand mit Malerei zu füllen. Beim klassischen Porträtauftrag einer Drittperson steht jedoch die fotografische oder empfundene Ähnlichkeit im Vordergrund. Kaum erblickt ein Neonate das gleissende Licht dieser Welt prägen sich Gesicht und Geruch der Mutter unauslöschlich ein. Die Erkennung von Gesichtern fusst auf den ersten Instinkten. Sofort registriert das menschliche Auge die kleinsten physiognomischen Regungen. Dasselbe gilt auch bei der Darstellung von Automobilen: die kleinste Abweichung, schon wirkt die Abbildung missraten. Diese unzweifelhaft anspruchsvollste Disziplin der Malerei war mir eine provokative Herausforderung. Nach dieser hochgesteckten Hürde liefen mir Landschaften und andere Themen leichter aus der Hand.

HUO  Es gibt doch dieses Büchlein von Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter. Was wäre dein Ratschlag an junge Künstler, Musiker, Dichter, Schriftsteller oder Ländlermusiker?
AB
Am Anfang war das Vorwort. Dies ist kein Ratschlag, aber ein hint. Der Inhalt folgt auf dessen Fuss. Texte und Musik immer schön mit dem ersten Buchstaben oder Ton beginnen …

HUO  Haben wir irgendwas vergessen?
AB
Mit «rotomotor» machte ich eine schöne Erfahrung. 1998 spielte ich in Tokyo in einem Maultrommel-Bühnenstück. Vor der Aufführung lief der ganze «rotomotor»  im Foyer, im sich langsam füllenden Saal, in den Künstlergarderoben. Ausser mir verstand keiner ein Wort, doch es funktioniert auch für Menschen, die den Text nicht verstehen. Sie spielen es und hören es und finden es gut! Die Menschen in Japan kennen mich von der Noise-Szene her und waren überrascht, dass ich auch Maultrommel spiele, total erstaunt. Das Netzwerk um 1968 hat funktioniert. Von meiner Hippieplatte (Vom Goldabfischer, 1970) gab es 300 Exemplare. Davon erreichten mindestens zwei kalifornische Knotenpunkte, zwei gelangten nach Japan, alle sehr gut an Schlüsselstellen positioniert, es gab extrem geringen Streuverlust.

Es kommt alles aus einem. Eben sprach ich von den verschiedenen Disziplinen. Der Eindruck einer bunten, unüberblickbaren Mischung mag auf den ersten Blick irritieren. Bei näherer Betrachtung lässt sich erkennen, dass alles aus dem Gleichen kommt, denselben Esprit hat, dass es nicht Mimikry oder Maskerade ist, sondern direkt und geradeheraus.

HUO  Könnte man den Begriff Gesamtkunstwerk verwenden?
AB
Ein etwas strapazierter Begriff, aber hier durchaus anwendbar –  zumindest scheint er nicht fehl am Platz.

HUO  Gibt es ein Interesse, irgendwann alle diese Dimensionen zusammenzubringen, entweder in einem Gesamtkunstwerk oder einem Buch oder einer Ausstellung? Bisher waren sie immer sehr verstreut, in einer Art anarchistischer Untergrundlogik, die 300 Schallplatten sind sehr präzis platziert, es gab aber nie diese Zusammenführung. Oder ist das zu totalitär?
AB
Bei den Jungs in der Hacienda fand genau dies statt, da waren meine Musik, meine Bücher und ein Querschnitt meines bildnerischen Schaffens ausgestellt.

HUO Eine allerletzte Frage noch, mir wurde immer wieder erzählt von deinen Happenings, es gab legendäre Aktionen seit den späten 60er-Jahren, bevor du dich, wie du sagtest, in den 90er-Jahren zurückgezogen hast?
AB
Die 90er-Jahre widmete ich prioritär der Maultrommel, das Kunstschaffen lief auf Sparflamme weiter.

HUO  Die Bellevue-Sache, Peter Fischli erzählte mir von deinen Aktionen, ich möchte mehr wissen über diese Happenings, es ist ja fast eine Art Fluxus, fast wie bei Emmett Williams.
AB
Ich war, ohne auf der Fluxus-Taste rumzudrücken, stets «fluxabil». Ich «bin» nicht Fluxus, habe aber einen Draht zu diesem. Dem Fluxus geht eine lange Reihe verwandter Neuerungen voraus. Narreteien im Mittelalter, Till Eulenspiegel, Hieronymus Bosch, Manierismus, Barockliteratur, Englischer Nonsens, Karl Valentin, Dada, Aspekte des Surrealismus, Ives Klein; «Absurde» Aktionen gab es seit Jahrhunderten, dann kamen Happenings und Fluxus, damit wuchs ich an der Kunstschule auf.

Beim Bellevue gab es eine Open-Air-Ausstellung: Ich zeigte Tuschzeichnungen und machte auf dem Rasen etwas mit Feuer, zwischen Happening und Land-Art. Das erste grosse Happening machte ich Ende 60er, Anfang 70er Jahre in der Kiesgrube Mattenhof. Dort hatte es eine kreisrunde Piste für Modellflugzeuge, um diesen Kreis waren fünf Schlagzeuger postiert, der Kreis brannte mit Sägemehl und Benzin. Es gab ein einziges kleines Plakat, einen Anschlag im Bahnhofbuffet zweiter Klasse. Dies genügte, jedenfalls kam das Publikum.

Zu andern Anlässen platzierte ich hektografierte A6-Flyer. Damals erschien die NZZ noch dreimal täglich, die Zeitungen lagen in offenen Kästen, ich legte in jeden Kulturbund einen Flyer.

Donnerstags wurden die Abfallsäcke für die Müllabfuhr herausgestellt. Auch auf diese klebte ich Flyer, obwohl die Säcke in einer halben Stunde verschwinden würden. Mit kleiner Auflage auffallen – Information mit wenig Streuverlust.

HUO  Wenig Streuverlust, dies ist das Motto.
AB
Nolens Volens. Es ergab sich so.

Das Interview ist Teil der Publikation “Prix Meret Oppenheim 2014” (SS. 25-43) – auch auf English verfügbar.